Mit Biodesign nachhaltigere Produkte gestalten: »Bei Biodesign setzt man auf den riesigen Wissenspool aus 3,8 Milliarden Jahren Evolution.«

Biodesigner:innen arbeiten kreativ an einer hochspannenden Schnittstelle: Sie übersetzen wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirkmechanismen hocheffizienter und intelligenter Strukturen aus der Natur in ökologisch nachhaltige Produkte und Herstellungsprozesse. Kassandra Huynh unterstützt als selbstständige Biodesignerin vor allem junge Unternehmen dabei, sich von Beginn an innovativ, kreislauffähig – und nach dem Vorbild der Natur auszurichten. Mehr über ihren Arbeitsalltag, ihre Projekte und spannende Case Studies im Interview.
Kleine weiße Pilze auf welkem Blatt
© Seth GaleWyrick
von Charlotte Clarke, 17. April 2023 um 07:27

Kassandra, du bist Biodesignerin. Eine ziemlich ungewöhnliche Spezialisierung. Was genau versteht man unter den Konzepten Biodesign bzw. Biomimicry?

Kassandra Huynh: Biomimicry ist Natur-inspirierte Innovation. Es entspringt von »Bio« = Leben und »Mimicry« = Imitation. Es ist eine spannende Designmethode, die das Ziel hat, wie die Natur zu gestalten. Ein Hybrid aus Naturwissenschaft und Design. Bei dieser Art von Biodesign setzt man auf den riesigen Wissenspool aus 3,8 Milliarden Jahren Evolution. Sie liefert Inspiration für schlauere, regenerative, kreislauffähige Designs.

Es ist die Rückkehr mit modernen Mitteln zu einer gestalterischen Praxis, die bereits in indigenen Kulturen ausgeübt wurde, als wir noch verbundener mit der Natur lebten. Biomimicry verbindet Lo-TEK (Traditional Ecological Knowledge) / Low-tech Design mit moderner Bionic / Hi-tech Design.

Beispiele für Produkte mit Biodesign

Kannst du ein paar konkrete Beispiele für Produkte oder Dienstleistungen nennen, die durch Biodesign-Elemente nachhaltiger gestaltet werden können? Bringt Biodesign auch immer automatisch ökologische Vorteile mit sich?

Kassandra: Interessante bionische Beispiele sind »Lotusan« – eine Fassadenfarbe mit Lotuseffekt. Schmutz perlt damit an Wänden ganz einfach ab, weil die Farbe nach dem Vorbild selbstreinigender Lotusblätter entwickelt wurde. Oder das Vogelschutzglas »Ornilux«. Jährlich sterben rund 115 Millionen Vögel, weil sie Glasscheiben nicht erkennen und gegen Fassaden fliegen. Auch hier liefert die Natur eine Lösung: Die »Ornilux«-Beschichtung reflektiert, inspiriert von Spinnennetzen, UV-Licht, das für das menschliche Auge unsichtbar ist, aber für Vögel bestens zu erkennen ist.

Biodesign nach Biomimicry-Grundsätzen bringt erfreulicherweise auch immer ökologische Vorteile mit sich, denn es gilt u.a., umweltfreundliche Herstellungsmethoden zu nutzen und kreislauffähige Produkt-Lebenszyklen zu integrieren.

Welche Rolle spielt die ästhetische Ebene im Biodesign? Schließlich kauft - aus Sicht der Endverbraucher:innen - das Auge ja immer mit. Inwieweit stehen Funktionalität, Nachhaltigkeit und Ästhetik zueinander im Widerspruch und wie lassen sich diese Komponenten sinnvoll vereinen?

Kassandra: Aus meiner Sicht ist Ästhetik ein essentieller Bestandteil, denn auch wenn sie subjektiv und schwer quantifizierbar ist, so finden wir sie doch überall in der Natur. In der Tierwelt ist sie zum Beispiel oft überlebenswichtig bei der Fortpflanzung. Glücklicherweise muss Ästhetik nicht im Widerspruch zur Funktionalität stehen. Es heißt zwar »form follows function« aber »beauty is a function«, denn schöne Gestaltung regt dazu an, Produkte länger zu nutzen, sorgfältiger zu behandeln und später upzucyclen.

Biodesign/Biophilia stützt sich u.a. auf wissenschaftliche Erkenntnisse, die Ästhetik in der Natur noch tiefer erforschen. Warum sind Bienenwaben sechseckig und Sonnenblumenkerne im goldenen Winkel angeordnet? Die Forschung enthüllt täglich neue unbekannte Insights aus der Natur, die wir für unsere menschlichen Designs nutzen können.

Ein wichtiges Muster aus der Natur, das Funktionalität, Nachhaltigkeit und Ästhetik verbindet, heißt »Lightweighting«. Es steht für effizienten, minimalen Einsatz von Materialien, die reichlich vorhanden und erneuerbar sind. Durch besonders ausgeklügelte Strukturen, in denen solche Materialien angeordnet sind, ergibt sich eine hohe Qualität (siehe Bild-Beispiele). Menschliche Designs hingegen setzen für hochwertige Designs meist auf seltene, nicht-erneuerbare Materialien und erstellen Qualität weniger durch innovative Strukturen.

© AskNature

Foto: © AskNature

© AskNature

Foto: © AskNature

Warum Startups mit Biodesign die Nase vorn haben

Warum hast du dich besonders auf die Zielgruppe von Gründer:innen und jungen Unternehmen fokussiert? Inwieweit lohnt es sich besonders für Startups, sich schon in einer sehr frühen Phase der Produktentwicklung mit Biodesign zu beschäftigen?

Kassandra: Für mich ist es am interessantesten, mit Unternehmen zusammenzuarbeiten, die Biodesign-Prinzipien in ihrer flexiblen Entstehungsphase integrieren und darauf aufbauen. Für größere Unternehmen, die im Status Quo gut funktionieren, ist es schwer, grundlegende Veränderungen anzustoßen. Ich bin allerdings überzeugt, dass eine tiefgehende Transformation nötig ist, um in der Zukunft bestehen zu können und relevant zu sein – junge Unternehmen sind hier im Vorteil.

Je grundlegender auf Biodesign gebaut wird, desto mehr Marktvorteile werden sich daraus ergeben. Es gilt mehr als eine nachhaltigere Alternative zu herkömmlichen Produkten anzubieten, sondern neue bahnbrechende Funktionen mithilfe von Biodesign anzubieten, die bisher nicht möglich waren.

Kassandras Werdegang

Wie kamst du zu dieser fachlichen Spezialisierung? Welchen fachlichen Hintergrund und beruflichen Werdegang hast du?

Kassandra: Während meines Studiums begann ich, meine Verantwortung als angehende Produktdesignerin zu hinterfragen. Ich entschied mich, an meinen Bachelor of Arts in Möbel-/Produkt-Design einen Master of Science in Biomimicry anzuhängen und absolvierte erweiterte Design Thinking- und Circular Design-Programme.

Seither habe ich als Biodesignerin/-beraterin mit größeren Unternehmen wie Herman Miller, Honeywell und 3M gearbeitet und mit zahlreichen Startups, NGOs und Design-Hochschulen. Darüber hinaus habe ich, neben bekannten Co-Autor:innen wie Maja Göpel, ein Kapitel zum Buch »Future Skills« beigetragen. Mit meinem Partner bin ich auch als Künstlerin aktiv und gestalte wünschenswerte Zukunftsszenarien.

Studiengänge und Weiterbildungen im Bereich Biodesign

Welche Möglichkeiten gibt es, als (angehende:r) Designer:in in das Themenfeld Biodesign einzusteigen? Schließlich braucht es neben Design-Skills auch einige naturwissenschaftliche und technische Kenntnisse. Kennst du evtl. passende Fortbildungen oder Studiengänge?

Kassandra: Es gibt zum Beispiel den Online-Master-Studiengang in Biomimicry der Arizona State University, das Biomimicry Professional Trainingsprogramm, die Learn Biomimicry-Kurse, der Circular Economy-Kurs der Technischen Universität in Delft, oder das Biodesign-Programm der Central St.Martins der University of the Arts London.

Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei dir aus? Welche Aufgaben machen dir besonders Spaß?

Kassandra: Vormittags liegt mein Fokus auf meiner künstlerischen Arbeit, von 3D Rendering, Konzeptentwicklung, bis hin zu der Gestaltung von Ausstellungsmaterialien. Nachmittags folgt die Biodesign-Beratung, von Online-Coaching Meetings bis hin zur Recherche und Konzeption von Design-Strategien aus der Natur sowie dem Übersetzen von wissenschaftlichen Texten in greifbare Design-Lösungen.

Das Schöne ist, dass mich die Kunst- und Designaufgaben ganz unterschiedlich fordern und auch alle Klient:innen vor verschiedenen Herausforderungen stehen. Am spannendsten ist es, wenn es direkt um die Gestaltung geht.

Magst du uns über ein Projekt erzählen, das für dich besonders spannend war oder auf das du besonders stolz bist? Was hat dieses Projekt für dich so besonders gemacht?

Kassandra: Das ist gar nicht so einfach, denn es gibt zu viele spannende Projekte. Als Designerin und Beraterin bin ich unter anderem eine Mentorin des Startup-Programms der Kunsthochschule Weissensee Berlin. Die angehenden Unternehmer:innen entwickeln zum Beispiel Algen-Verpackungsmaterial oder Textilfarben aus Pilzen.

Aktuell stehe ich auch mit einem jungen Handtaschen-Unternehmen in der Konzeptentwicklung. Ich gestalte potentielle Designs, die Taschen multifunktioneller gestalten und den Tragekomfort erhöhen. Wir arbeiten gezielt an Lightweighting- und Ästhetik-Aspekten und kombinieren traditionelles Handwerk mit Biodesign (selbstreinigende Materialien, 3D Druck).

All diese Projekte liegen mir gleichermaßen am Herzen.

© mujō | Algen-Verpackungsmaterial

© mujō | Algen-Verpackungsmaterial

»Selbst und ständig« - stimmt das Klischee? Wie schaffst du eine für dich stimmige Balance zwischen Arbeit und Privatleben?

Kassandra: Das stimmt schon ein bisschen, denn auch in der Freizeit kommen neue Ideen, die ich notiere, es gibt kurzfristige Planänderungen von Klient:innen, oder sehr späte Termine aufgrund der Zeitverschiebung ins Ausland. Die freie Zeitplanung, große Gestaltungsmöglichkeiten und die Zusammenarbeit mit inspirierenden Unternehmer:innen machen diese Punkte aber wieder wett. In der Regel habe ich eine normale Arbeitswoche und freie Wochenenden, die essentiell sind, um präsent und kreativ zu sein. Allerdings ist mein »Wochenende« auch mal unter der Woche.

Rahmenbedingungen für nachhaltige Produkte

Leider haben nach wie vor in aller Regel nicht nachhaltige, wenig langlebige und möglichst billig hergestellte Produkte einen klaren Marktvorteil. Inwieweit siehst du hier - neben der Verantwortung, die die Unternehmen für ihre eigenen Produkte selbstverständlich tragen - auch die Politik in der Verantwortung? An welchen Stellen braucht es aus deiner Sicht besonders dringend strengere gesetzliche Vorgaben, was nachhaltiges Produktdesign angeht?

Kassandra: Es gibt viele Punkte, die native Produktdesigner:innen vermutlich besser einschätzen können. Verglichen mit meinem Herkunftsland, den USA, bestehen hier weitaus bessere gesetzliche Vorgaben, dennoch gibt es auch hier noch viel Spielraum um regenerative, kreislauffähige Produkte als Status Quo zu etablieren.

Aus meiner Perspektive brauchen wir besonders striktere Vorgaben bei international produzierenden Unternehmen, die ausländische Gegebenheiten nutzen, um weniger ökologisch und sozial verträglich zu produzieren.

Auch sind striktere Vorgaben und Anreize nötig, um als Export-Nation die Verantwortung gegenüber örtlichen Gegebenheiten, wie dem Naturschutz und der Renaturierung und dem Schutz der Gesundheit der Bevölkerung, nicht den wirtschaftlichen Zielen unterzuordnen.

Über Kassandra Huynh

Portraitfoto von Kassandra Huynh
© Kassandra Huynh

Kassandra ist eine Potsdamer Biodesign-Beraterin und Künstlerin. Sie ist spezialisiert auf Design und Kunst für sozialen und nachhaltigen Wandel. Mit Wurzeln in den Vereinigten Staaten, vietnamesischer und hmong Herkunft (indigene Gruppe in Südostasien) liegt ihr Fokus auf inklusivem und fairem Design, das unterrepräsentierte soziale Gemeinschaften berücksichtigt. In ihrer Designpraxis erkundet sie, wie die gebaute Umwelt, räumliches Design und Produkte unsere Verbindung zur Natur verbessern können.

Du möchtest mehr erfahren? Hier geht es zu Kassandras Webseite.

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