Jede Woche ein neuer Beruf: Bei der Weekendschool erleben Schüler:innen die Vielfalt der Berufswelt hautnah

Die Entscheidung für einen Beruf fällt vielen jungen Menschen alles andere als leicht. Dies gilt insbesondere für sozial benachteiligte Schüler:innen, denen oftmals Perspektiven und Vorbilder fehlen. Bei der Weekendschool werden Schüler:innen bereits ab der 5. Klasse langfristig begleitet und lernen jede Woche einen anderen Beruf ganz praktisch kennen. Wir haben mit Monica Klein, Mitgründerin der Weekendschool Deutschland, darüber gesprochen, wann eine Berufsorientierung wirklich Orientierung gibt und wie die Chancengerechtigkeit wirkungsvoll gestärkt werden kann.
Kind vor einer Tafel, auf der geschrieben steht "Ich will Kindergärtner werden."
Weekendschool Deutschland e.V.
von Charlotte Clarke, 27. Juni 2023 um 07:29

Mit der Weekendschool Deutschland setzt ihr euch für das Thema Chancengerechtigkeit ein und unterstützt junge Menschen bei der Berufsorientierung. Wie konkret sehen eure Aktivitäten und Angebote aus?

Monica Klein: Unsere Mission: ZEIGEN, WAS GEHT! Deshalb befähigen wir angehende Jugendliche aus Stadtteilen mit niedrigem Sozialindex bei der Entdeckung der eigenen Talente und Interessen, ihrer Persönlichkeitsentwicklung und der Berufsfindung, um Bildungsgerechtigkeit in Deutschland herzustellen. 

Dazu organisieren wir ab Klasse 5 in einem langfristig ausgerichteten, präventiven Programm interaktive Beruf-Workshops mit Vorbildern unterschiedlicher Berufsgruppen, Exkursionen zu spannenden Arbeitsplätzen und Kompetenztage.

Chancengerechtigkeit in Deutschland

Beim Thema Chancengerechtigkeit sieht es in Deutschland leider vergleichsweise schlecht aus. Laut des jährlich von der OECD herausgegebenen Berichts »Bildung auf einen Blick« ist Deutschland im Vergleich zu anderen wohlhabenden europäischen Staaten eher als Schlusslicht einzustufen. Was bedeutet das für junge Menschen aus sozial benachteiligten Familien - insbesondere im Hinblick auf ihre berufliche Zukunft - und wo liegen deiner Meinung nach die Hauptursachen?

Monica: Berufsbildung in der Schule ist in jedem Bundesland anders geregelt. Somit kann ich keine für Deutschland allgemeingültige Antwort geben. Generell kann man aber sagen, dass es Kindern und Jugendlichen aus Stadtteilen mit niedrigem Sozialindex vor allem an Vorbildern fehlt. Sie erhalten zu wenig Inspirationen aus ihrem direkten Umfeld, was es dort draußen in der Welt auch für sie gibt.

Unsere Teilnehmer:innen erzählen uns zudem, dass sie einen nicht unerheblichen Anteil an Ageigsmus (Anm. der Red.: Diskriminierung auf Grund des Alters), Rassismus und Klassismus erleben – und das jeden Tag. Ein Beispiel: Forschungsinstitute als Arbeitgeber werden den Schüler:innen z.B. so gut wie nie vorgestellt. Dass die aber auch z.B. Elektriker:innen ausbilden, hat kaum jemand aus der Beratung vor Augen. Doch wenn ein:e Jugendliche:r Begeisterung für die Wissenschaft und das Arbeiten in einem internationalen Team mitbringt, ist die Person dort genau richtig. Denn was nutzt eine Berufsbildung mit Start in der achten, neunten Klasse, wenn die Schüler:innen schon nicht mehr an sich glauben? Insgesamt brauchen wir einen stärkeren Fokus auf die frühe Potenzialentfaltung. Und das verstärkt in Stadtteilen mit niedrigem Sozialindex, da hier Eltern oft zu wenig unterstützen können.

Was die Teilnahme bei der Weekendschool bei den Schüler:innen bewirkt

Welche Effekte beobachtet ihr bei den Schüler:innen, nachdem sie an euren Orientierungsangeboten teilgenommen haben? Außerdem kann ich mir gut vorstellen, dass die Schüler:innen dadurch auch positive Impulse und Hoffnung in ihre Familien mit hineintragen und dies auch einen Effekt auf z.B. Geschwister und Eltern hat.

Monica: Ja, das stimmt, die Teilnahme an der Weekendschool hat nicht nur Auswirkungen auf die Teilnehmenden, sondern auf das gesamte Umfeld. Angefangen von: »Darf meine Freundin auch am Programm teilnehmen?«, über den verstärkten Glauben an sich selbst, bis hin zu Aussagen von Eltern: „Weil meine Tochter bei der Weekendschool so viel Freude hat, mache ich nun auch eine Fortbildung. Sie hat mich angesteckt.« Schüler:innen aus unserem ersten Team waren Schulsprecher:innen und haben sich nun sogar zugetraut, zum ersten Mal eigenverantwortlich eine Abschlussfeier für den 10. Jahrgang an ihrer Schule zu organisieren und die Teilnahme für alle Schüler:innen des Jahrgangs zu ermöglichen.

Es ist eine große Freude zu sehen, mit welchem Selbstbewusstsein sie nun durch ihr Leben gehen. Der frühe Start des Programms und die langjährige Betreuung der Teilnehmenden, das Gesehenwerden, die vielen praktischen und persönlichen Einblicke in die verschiedensten Lebensläufe lässt sie reifen.

Weekendschool Deutschland e.V.
Wieso reichen die Berufsorientierungsangebote der Schulen oftmals nicht aus? Wo besteht hier aus eurer Sicht Verbesserungsbedarf? Und welchen Unterschied macht es, wenn Programme - wie die von der Weekendschool - langfristig angelegt sind und die Schüler:innen über einen längeren Zeitraum begleiten?

Monica: Wir hören sehr oft, dass die Berufsorientierung in den Schulen (sicher aufgrund von Zeitmangel) wenig auf die persönlichen Vorlieben und Interessen der Schüler:innen eingeht. Oft werden z.B. Besuche auf Berufsmessen nicht in der Gestalt vorbereitet, dass die Schüler:innen sich wirklich trauen, ins Gespräch zu gehen und Fragen zu stellen. »Och, ich habe wieder Kugelschreiber gesammelt.« Alina, 15 Jahre

Wenn man Schüler:innen längerfristig begleitet, erlebt man den gesamten Prozess der (Berufs)orientierung. Jeremy wollte anfangs unbedingt Chef werden. Nach dem letzten Samstag meinte er ziemlich bedrückt: »Ich habe das Gefühl, als Chef ist man oft allein, muss ständig Entscheidungen treffen und sich darum kümmern, dass alle mitmachen. Ich glaube, dass ist nichts für mich.«

Unsere Teilnehmenden genießen vor allem die vorgestellte Vielfalt, den wertungsfreien Raum und den wertschätzenden Umgang. Sie fühlen sich ernst genommen.

Welche Berufe gibt es bei der Weekendschool zu entdecken?

Sich über mehrere Jahre hinweg für ein solches Programm zu verpflichten, setzt bei den jungen Menschen einiges an Commitment voraus - insbesondere dann, wenn sie in schwierigen Situationen aufwachsen. Wie fördert ihr sie dabei, am Ball zu bleiben?

Monica: Darf ich schmunzeln? Das ist eine Frage, die sehr oft von Erwachsenen und Förderern gestellt wird. Wenn man sich vor Augen hält, dass viele angehende Jugendliche in Stadtteilen mit niedrigem Sozialindex kaum Hobbies haben, weil z.B. oft das Geld hierfür fehlt, freuen sie sich auf ein regelmäßiges Programm am Samstag. Und da unsere Workshops größtenteils aus interaktiven Einzel- und Gruppenarbeiten bestehen, sie interessante, begeisternde Menschen kennenlernen und sie einen wertungsfreien Raum erleben, ist das Programm ein Selbstgänger. Hinzu kommt der sog. safe space, den wir bieten. Die Weekendschool-Kids fassen zu den Teamleiter:innen schnell Vertrauen und öffnen sich mit ihren Problemen. Diese erlebte Selbstwirksamkeit hat positive Effekte auf das Wohlbefinden: Also ein Grund, um wiederzukommen.

Könnt ihr ein paar Beispiele von Berufen nennen, die ihr im Rahmen eurer Workshops bereits vorgestellt habt? Welche Tätigkeiten stoßen bei den Schüler:innen auf besonderes Interesse und welche sind den jungen Menschen eher unbekannt?

Monica: Wir behandeln sechs große Themen: Digital, Gesellschaft, Kreativ, MINT, Sozial und Umwelt. Auch wir können die rund 300 Lehrberufe und die vielen Studiengänge nicht vollumfänglich abdecken. Deshalb ist jedes Vorbild ein Repräsentant für viele Berufe in seinem direkten beruflichen Umfeld. Wie z.B. die Berufe am Theater, beim Gericht, im Krankenhaus, in einer Werbeagentur, bei der Polizei und Feuerwehr, aber auch im Tierheim, einer Galerie und in einer Forschungseinrichtung wie dem DESY (Deutsches Elektronen-Synchrotron) oder im Hafen und auf einem Containerschiff. Wir führen die Weekendschool-Kids zudem an jedem Samstag an die Themen Digitalisierung und Nachhaltigkeit heran. Natürlich gibt es immer wieder auch Berufe, die zunächst eher langweilig erscheinen, oder wo wir auf typische Genderstereotype stoßen. Tatsächlich können sich am Ende eines Samstags aber die meisten Kids für den vorgestellten Beruf begeistern – oder sehr genau reflektieren, weshalb dieser nichts für sie ist.

Welchen Wandel unser Bildungssystem braucht

Die Arbeitswelt ändert sich rasant und vor allem im Zuge der Digitalisierung werden in den kommenden Jahren immer mehr Berufe entstehen, von denen wir heute noch gar nichts ahnen. Dies fordert von den jungen Generationen auf dem Arbeitsmarkt eine enorme Anpassungsfähigkeit sowie Toleranz gegenüber Unsicherheiten und Veränderungen. Das aktuelle, starre Bildungssystem kann diesen Anforderungen gar nicht ausreichend gerecht werden. Was muss sich hier deiner Meinung nach dringend ändern, um junge Menschen stark zu machen für die Arbeitswelt der Zukunft?

Monica: In erster Linie muss sich unserer Meinung nach der gesamte Unterrichtsaufbau mehr an die Vermittlung der sog. »4 K«, den Zukunftskompetenzen orientieren. Kreativität, kollaboratives Arbeiten, kritisches Denken und Kommunikation sind die Schlüsselkompetenzen der Zukunft. In der Grundschule meines Sohnes hat seine Lehrerin meistens die Inhalte in Projekte verpackt. So sind die Schüler:innen viel interessierter, erleben mehr Selbstwirksamkeit und merken gar nicht, wie viel sie lernen. Wir erleben das immer wieder in der Weekendschool. Wenn die Teilnehmenden sich mit der zurückgelegten Entfernung eines Fußballes von der Produktion bis zu uns in den Laden beschäftigen, wenden sie ganz selbstverständlich Mathe an. Wenn man sie allerdings fragt, sagen viel zu viele: »Mathe – kann ich gar nicht und macht auch echt keinen Spaß!«

Weekendschool Deutschland e.V.

Gibt es auch Unterstützungsangebote über die Orientierungsphase hinaus, d.h. auch dabei, sich für den Traumberuf zu qualifizieren?

Monica: Das ist eines unserer Zukunftsprojekte. Da wir aber auch mit den Kindern, die aus der Weekendschool rausgewachsen sind, noch in engem Kontakt stehen, unterstützen wir bei Bedarf natürlich weiterhin. Zum Beispiel bei der Suche nach einem spannenden Praktikum oder bei der Bewerbung.

Was ist die Geschichte hinter der Gründung von Weekendschool?

Monica: Mein Mann ist vor einigen Jahren an seinem dritten Gehirntumor gestorben und da mein Sohn erst acht Jahre alt war, konnte ich meinen Job im deutschlandweiten Außendienst nicht mehr ausüben. So habe ich mir den Traum erfüllt, ein eigenes Projekt auf die Beine zu stellen.

Welche Möglichkeiten gibt es, sich bei der Weekendschool zu engagieren? Gibt es vielleicht bestimmte Berufszweige, für die ihr noch Menschen sucht, die Lust haben, einen Einblick in ihren Arbeitsalltag zu geben?

Monica: Es gibt drei verschiedene Möglichkeiten sich bei der Weekendschool zu engagieren:

  1. Als »Weekendschool Friend«: Sie unterstützen die Weekendschool-Kids am Samstag bei den Einzel- und Gruppenarbeiten.
  2. Als Vorbild, vor allem aus dem Handwerk! Hier sind wir leider unterrepräsentiert.
  3. Im Verein (im Hintergrund), z.B. bei der PR-Arbeit, denn wir möchten unsere Sichtbarkeit erhöhen.

Und natürlich Spenden, spenden, spenden 😉

Über Monica Klein

»Ich möchte, dass Schüler:innen mit Zuversicht für ihr Leben die Schule verlassen. Dass sie wissen, dass das Leben viele Möglichkeiten für Sie bereithält und dass wir sie ermutigt haben, diese Chancen für sich zu ergreifen.« – Monica Klein, Vorständin und Perspektivgeberin

Neugierig geworden? Dann geht es hier lang zur Webseite der Weekendschool Deutschland.

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