»Wir sollten nicht den Ast absägen, auf dem wir sitzen« - Wie wir die Spanne zwischen Wissen und (nicht) Handeln minimieren können

»Nachhaltigkeit« ist ein in der Gesellschaft intensiv diskutierter Begriff und auch als politisches Ziel mittlerweile fest verankert. Dass wir eine nachhaltigere Welt gestalten müssen, um als menschliche Spezies auch langfristig zu überleben, ist den meisten Menschen bewusst. Aber warum fällt es uns so schwer, diese Ziele auch tatsächlich zu realisieren? Und was nützt uns die Utopie einer besseren Welt, wenn wir keine Ahnung haben, wie wir dort hinkommen? In seinem neuen Buch »Ist Nachhaltigkeit utopisch?« diskutiert Autor Prof. Dr. Christian Berg mögliche Wege für einen realen Wandel.
Foto©: oekom-Verlag
von Robert Franzen, 4. Mai 2020 um 09:00

In ihrem Buch »Ist Nachhaltigkeit utopisch?«, schreiben Sie, dass wir de facto nicht wissen, was Nachhaltigkeit eigentlich bedeutet. Was genau meinen Sie damit?

Christian Berg: Wir wissen schon, was Nachhaltigkeit bedeutet, aber nicht, wie wir sie erreichen! Wie schaffen wir es, allen Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen und zugleich nicht unseren Kindern und Enkeln ihre natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören? Darauf haben wir noch keine Antwort gefunden.

Die 17 Nachhaltigkeitsziele der UN sind jedes für sich gut und erstrebenswert, aber niemand kann mit Gewissheit sagen, ob wir sie auch alle gleichzeitig erreichen können. Im Gegenteil, daran gibt es begründete Zweifel. Im Prinzip sind diese Ziele also wie ein ungedeckter Check.


Der Titel des Buches suggeriert ebenfalls, dass Nachhaltigkeit im Endeffekt vielleicht nur eine Wunschvorstellung bzw. ein nicht erreichbares Ziel sein könnte - oder eben der Schlüssel zu einer besseren Welt. Wie stehen Sie zu dieser These?

Berg: Eine Utopie ist etwas sehr wertvolles, schönes – denn sie beschreibt eine gelingende, in gewissem Sinne eine heile Welt. Dass wir uns in diesem Sinne um eine Welt bemühen, in der die Menschen dauerhaft im Einklang miteinander und mit der Natur leben können, das ist als Idealbild wichtiger denn je.

Aber wie bei allen Utopien sollten wir sehr vorsichtig sein zu behaupten, dass wir wüssten, mit welchen Mitteln wir diese Welt verwirklichen können – sonst kann aus dem positiven Leitbild schnell totalitärer Zwang werden. Insofern können wir uns nur schrittweise dem Ideal der Nachhaltigkeit annähern, werden aber letztlich nie mit Sicherheit sagen können, dass spätere Generationen unser derzeitiges Handeln noch als nachhaltig beurteilen werden.



In vielerlei Hinsicht wissen wir theoretisch, was wir für eine nachhaltigere Welt tun müssten, leider erleben wir aber immer wieder, wie Vorschläge nicht angenommen werden, Länder aus Klimaabkommen austreten und Pläne unnötig hinausgezögert werden. Was sind aus ihrer Perspektive die größten Barrieren, welche die nötigen Transformationsprozesse hin zu einer nachhaltigeren Gesellschaft erschweren?


Berg: Vielleicht ist die größte Barriere, dass wir nicht wissen, wie wir in die Umsetzung kommen! Denn im Prinzip wissen wir schon sehr viel – aber es geschieht trotzdem so wenig. Das hängt damit zusammen, dass es so viele unterschiedliche Barrieren gibt und die verschiedenen Probleme miteinander zusammenhängen. Das Klimaproblem werden wir zum Beispiel nicht lösen, wenn wir nicht auch lernen, dem Populismus zu begegnen, falsche Marktanreize zu beseitigen, unsere Konsummuster zu ändern und wirksame Governance-Strukturen für globale Herausforderung zu entwickeln. Und natürlich hängt es auch mit uns selbst zusammen – tun wir, was wir für richtig halten?




Was müsste sich also grundlegend ändern, damit Nachhaltigkeit funktioniert und von vielen Menschen nicht als Strafe oder Verlust von etwas wahrgenommen wird, wie dies vielleicht momentan noch der Fall ist?

Berg: Es ist zwar richtig, dass jeder von uns auch seinen Beitrag leisten kann (und sollte), aber Moral kann Systemveränderung nicht ersetzen. Es ist vor allem Aufgabe der Politik, unsere Systeme in Gesellschaft, Recht und Wirtschaft so zu gestalten, dass nachhaltiges Handeln unterstützt und nicht bestraft wird.

Wir sollten aber zugleich auch nicht nur auf den großen Systemwandel warten, den »die da oben« doch endlich bewerkstelligen, denn jede und jeder kann einen Beitrag leisten. Um das einfacher und handhabbarer zu machen, schlage ich vor, Handlungsprinzipien für Nachhaltigkeit zu entwickeln und einzuüben. Dazu gehört zum Beispiel, sich möglichst lokal, saisonal und vegetarisch zu ernähren, im menschlichen Miteinander wieder stärker zu lernen, wechselseitige Vorteile (win-win) zu suchen oder auch, Reduktion nicht immer als Verzicht, sondern als Mittel zur Fokussierung auf das Wesentliche zu verstehen lernen.



Allerdings beschreiben Sie in Ihrem Buch auch, dass wir uns letztendlich doch nicht sicher sein können, dass gewisse Maßnahmen, wie z.B. Bioenergie, aufgrund der Komplexität des Ökosystems eine so große Wirkung erzielen, wie wir uns das vorstellen. Sind die Bemühungen also vielleicht auf gewisse Weise doch umsonst?

Berg: Ganz sicher sind unsere Bemühungen nicht umsonst! Nur sollten wir aus Fehleinschätzungen der Vergangenheit lernen und in unserem Vorgehen etwas vorsichtiger und demütiger werden. Gerade wenn es darum geht, in großem Maßstab Dinge umzusetzen (wie zum Beispiel die Förderung von Bioenergie), müssen wir unsere eigenen Maßnahmen immer wieder kritisch auf den Prüfstand stellen. Bei wissenschaftlichen Theorien gehört es zur etablierten Praxis, auch die »Lieblingstheorien« immer wieder kritisch zu hinterfragen. Dasselbe sollte für Maßnahmen der Nachhaltigkeit gelten.




Einer der zentralen Begriffe Ihres Buches ist »Futeranity«. Was genau verstehen Sie unter diesem Konzept?

Berg: »Futuranity« steht für »FUuture of TERra and humANITY« – die Zukunft der Erde und des Menschlichen – im Deutschen übersetze ich es mit »Lebenswohl«. Darum sollte es bei unseren Bemühungen stets gehen, denn wir sollten nicht den Ast absägen, auf dem wir sitzen. Wenn wir uns auf dieses Ziel einigen, schaffen wir eine Diskussionsgrundlage, um dann im Einzelfall darüber zu streiten, wie wir diesem Ziel mehr oder weniger näher kommen, was also mehr oder weniger nachhaltig ist. Aber wir entlasten unser Handeln, indem wir nicht für jedes Verhalten im Alltag den Anspruch mitschleppen, dass es uns dem großen Menschheitsziel näherbringt – denn das überfordert jeden.



In Zeiten von Corona sehen wir, wie schnell sich die Natur von unserem Einwirken erholen kann, die Debatte ist aber (verständlicherweise) eher in den Hintergrund gerückt. Sehen Sie hier aber vielleicht auch eine Chance, den Menschenen zu zeigen, was möglich ist? Wie müsste das dann am besten angegangen werden?

Berg: Wir alle müssen derzeit mit großen Einschränkungen leben – und trotzdem geht das Leben in vielen Bereichen weiter und sucht sich zum Teil auch neue Bahnen! Verglichen damit sind die Einschränkungen, die wir bisher für den Klimaschutz diskutiert haben, lächerlich gering. Ein CO2-Preis von 100 Euro pro Tonne würde zum Beispiel schon eine deutliche Lenkungswirkung mit sich bringen, d.h. dem Klima helfen, würde aber im Schnitt pro Kopf nur etwa 80 Euro pro Monat kosten. Die große Chance in der gegenwärtigen Krise liegt m.E. darin, vieles auf den Prüfstand zu stellen, um unsere Welt danach ganz neu zu gestalten.



Wie kamen Sie auf die Idee, dieses Buch zu schreiben und was motiviert Sie, sich für nachhaltige Themen einzusetzen?

Berg: Ausgehend von der Faust’schen Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, wurde mir mit der Zeit immer wichtiger zu untersuchen, wie wir die Schöpfung nicht nur besser verstehen, sondern vor allem auch bewahren können. Dabei habe ich in ganz unterschiedlichen Rollen (in Wirtschaft, Wissenschaft, Politikberatung und Zivilgesellschaft) immer wieder erfahren, wie schwer es ist, mehr Nachhaltigkeit zu realisieren. Ich habe mich gefragt, warum das so ist und erstaunt festgestellt, dass diese Frage bisher noch niemand systematisch bearbeitet hat – jedenfalls weiß ich davon nichts. Deshalb habe ich mit dem Buch versucht, darauf zu antworten.

Welche Botschaft möchten Sie mit ihrem Buch vermitteln?

Berg: Es gibt viele Ansatzpunkte zur Veränderung – und jede und jeder kann heute damit beginnen! Wir müssen auf der Systemebene institutionelle Korrekturen an unseren wichtigsten Systemen vornehmen – zugleich aber auch jede*n Akteur*in in die Lage versetzen, konkret und praktisch zu Veränderung beizutragen. Ganz im Sinne des Kinderlieds: »Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, können sie das Gesicht der Welt verändern«.  Wenn das geschieht und wir uns am Leitbild des Lebenswohls/der »Futeranity« orientieren, kann Veränderung plötzlich möglich werden.



Zur Person:

Foto©: Jens Schulze


Christian Berg befasst sich seit gut 20 Jahren mit dem Thema Nachhaltigkeit, in ganz unterschiedlichen Funktionen und Rollen. Er war Chief Sustainability Architect bei SAP, hat im Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin (2011-2012) die Arbeitsgruppe zu nachhaltigem Wirtschaften und Wachstum geleitet und lehrt heute an verschiedenen Universitäten zu diesem Thema. Er engagiert sich beim Club of Rome, war u.a. einer der Gründer des tt30 Deutschland und gehört heute dem Präsidium der Deutschen Gesellschaft Club of Rome an. Studiert hat er Physik, Philosophie und Theologie. Weitere Infos findest du auch auf seiner Webseite




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